Der folgende Auszug aus dem Buch „Von der Wiederherstellung des Glücks – eine deutsche Kindheit in Frankreich" (Anna Tüne/Galiani Verlag
Berlin, 2010) gibt die wesentlichen Elemente der Geschichte Dieulefits wieder:
Okkupation in Dieulefit (Anna Tüne)
Dieulefit ist eine Kleinstadt im Südosten Frankreichs. …
Die Kleinstadt und ihr Landkreis, die den Namen Gottes führen, leisteten im zivilen Widerstand gegen die Abscheulichkeiten des Vichy-Regimes und gegen den Nazi-Terror unter der deutschen
Okkupation einen außerordentlichen Beitrag. Man hat es das «Wunder von Dieulefit» genannt und dieses Wunder bestand vor allem darin, dass diese kleine Stadt mit ihren circa dreitausend Einwohnern
und im ländlichen Umfeld knapp ebenso vielen, über eintausend Flüchtlinge und Verfolgte hat schützen, verstecken und ernähren können. Dass niemand verraten wurde, ist das Erstaunlichste daran,
denn an manchen französischen Orten war dies völlig anders. Dieser ungewöhnliche, intelligente und sehr erfolgreiche zivile Widerstand wurde entscheidend geprägt von einzelnen Individuen, die
allerdings in einem Umfeld agierten, das dem Geist des freien Denkens und des beherzten Handelns zugetan war. Die Urheber dieses Erfolges waren liebenswerte, eigensinnige und überaus
nonkonformistische Helden:
Es haben sehr viele Menschen am Wunder von Dieulefit mitgewirkt. Hier hat sich bestätigt, dass Widerstand nicht allein und zwangsläufig im unmittelbar Unterdrückten heranwächst, er kann im Gegenteil ebenso gut beim Anblick der Unterdrückung eines Nächsten entstehen. Das Phänomen der „compassion fatiguée“, des in der Überfülle der Not ermüdenden Erbarmens, hat hier nicht gegriffen. Das Erbarmen ist wach und pragmatisch geblieben, bis zum Schluss.
Dieulefit hat sein Wunder nicht nur aktiv herbeigeführt, es hat auch Glück gehabt. Natürlich ging viel Angst um. Verhängnis und Tod streiften um das Ländchen von Dieulefit herum. Das ist der
zweite Teil des Wunders: Deutsche und französische Schergen haben es offenbar übersehen. In der nahen Stadt V. waren im Zuge einer Vergeltungsaktion alle männlichen Bewohner von vierzehn Jahren
an bis hoch ins Greisenalter zusammen getrieben worden. Sie wurden an der Stadtmauer aufgestellt. Jeder dritte musste dort stehen bleiben in der willkürlichen Reihenfolge in der sie eingetroffen
waren. Diese wurden dann erschossen, einige Dutzend Männer, Zivilisten zwischen vierzehn und achtundachtzig Jahre alt. In N. wurde ein junger, mit dem Maquis kooperierender Arzt verhaftet
und zu Tode gefoltert. Auf dem recht nahe gelegenen Vercors, einem Hochplateau, auf dem sich viele bewaffnete Partisanen-Verbände nach und nach sammelten, fand ein grauenhaftes Gemetzel statt.
Immer wieder genährte Angstphantasien können aber auch zu paranoischen Wahrnehmungen führen. So wurde ein höchstwahrscheinlich ebenfalls verfolgter, deutsch sprechender Zahnarzt, der sich in
Dieulefit eine Praxis einrichtete und irgendwann vorsichtig nach deutschen Flüchtlingen fragte, sofort als Gestapo-Mann stigmatisiert. Einwände, dass die Gestapo sich wohl kaum die Mühe der
Einrichtung einer Zahnarztpraxis in einer kleinen südfranzösischen Stadt machen würde, drangen nicht durch. Jemand meinte sogar, den mutmaßlich auch in den Labyrinthen der Illegalität verlorenen
und daher Kontakt suchenden Zahnarzt, in Marseille in der finsteren Kluft der SS gesehen zu haben.
Die Landung der Alliierten im Juni 1944 an den französischen Küsten, spülte das Ländchen kurzfristig vom zivilen in den militärischen Widerstand. Mit Fahnen und Handwaffen stürmten Partisanen,
unter ihnen etliche Mutige der letzten Tage, besonders lautstark die Stadt. Sie entfernten das Portrait Pétains aus allen öffentlichen Gebäuden, flaggten die Trikolore und die Rote Fahne, wo auch
immer es ging und man feierte zwei Tage lang die Freiheit. Als klar war, dass das letzte Gefecht noch ausstand, rückte die bunte Truppe wieder aus und hinterließ einige zerbrochene Scheiben und
Ratlosigkeit. Fast alle heranwachsenden Jungen, legale wie illegale, folgten dem begeisternden Trupp in die Berge.
Die Befreiung, die sie alle so herbeigesehnt hatten war nicht aufzuhalten: einige Wochen später fuhren die ersten Jeeps der US-Army in Dieulefit ein. Fröhlich war die nicht enden wollende
Siegesfeier vor dem kleinen Rathaus, man tanzte und sang. In der Fassadennische aus der sie entfernt worden war, stand wieder die Marianne, die Republik als Frau. Ein schon länger konstituiertes
Befreiungskomitee übernahm die Verwaltung und die schwere Aufgabe einer Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, so auch der Eindämmung von Vergeltungsakten und anderer Willkür. Denn es war „der
Teufel“ los, kleine Horden von Siegern hatten sich auf die Spur der vermeintlich oder tatsächlich Besiegten gesetzt. Während der Siegesfeier entstand plötzlich Hektik. Maguy, die
Internatsdirektorin, rannte mit fliegenden Röcken, von zwei jungen Bewaffneten begleitet, auf den Stadtpark zu. An der Parkmauer sah man sie schon, mit ihren Gewehren fuchtelnd standen sie einem
Einzelnen gegenüber. Sie hatten ihm bereits übel mitgespielt, sein Gesicht war blutverschmiert. Sie hatten sich den trunksüchtigen deutschen Maler WOLS bereits zum Abschuss vor die Wand gestellt.
Maguy, die sie alle kannten, fuhr in die Gruppe drein wie ein Engel des Herrn, mit flammenden Augen und wilder Haarmähne verteidigte sie den „Allemand“ gegen die Behauptung, er sei ein
“Boche“ und gehöre an die Wand gestellt. Sie erklärte, das vermeintliche Nazi-Schwein sei ein deutscher Nazi-Feind. Es schämten sich nicht alle, aber sie gaben nach. Maguys Begleiter nahmen den
Maler in ihre Mitte und brachten ihn zum Rathaus, wo er einige Tage zu seinem eigenen Schutz blieb.
So wurde auch die Geschichte des Malers WOLS in Dieulefit zu einem guten Ende geführt. Man hatte geglaubt, einen armen verrückten Säufer, einen anstrengenden, sehr eigenartigen und sehr wenig
dankbaren Deutschen zu retten und hatte damit in Wahrheit einen der Zauberer der Malerei des zwanzigsten Jahrhunderts im Leben festgehalten. Gleich nach diesem Ereignis hat Maguy einem
befreundeten deutschen Widerständler einen Zettel ausgehändigt. Darauf stand, dass er zum Widerstand gehöre und dass man sie jederzeit fragen könne, sie bürge für ihn.