Peter Schneider

"Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen..."

 

Das erste Buch Moses erzählt von einer denkwürdigen Verhandlung zwischen Abraham und Gott. Der HERR will die abtrünnigen und verdorbenen Städte Sodom und Gomorra vernichten, Abraham versucht ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Es könnten etwa fünfzig Gerechte in der Stadt Sodom leben, gibt Abraham zu bedenken, du wirst sie doch nicht etwa zusammen mit den Gottlosen töten wollen? Der HERR ist von Abrahams Argument beeindruckt: wenn es fünfzig sind, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben! Aber Abraham kommt ins Zweifeln, ob er wirklich fünfzig Gerechte wird vorweisen können. Es gelingt ihm, den HERRN immer weiter herunter-zuhandeln, von fünfzig auf vierzig, von vierzig auf dreißig und so fort. Bei der Zahl zehn bricht der HERR die Verhandlung ab und schickt zwei Engel in die Stadt. Es zeigt sich, dass es nur einen einzigen Gerechten in der Stadt gibt. Der Herr wartet bis Sonnenaufgang, bis die Engel diesen einen mit seiner Familie in die Stadt Zoar geleitet haben. Dann lässt er Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra.

 

Unter den Denkmälern, die an die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Berliner Juden erinnern, sucht man vergeblich eines, das jene gar nicht so wenigen Berliner würdigt, die den Verfolgten geholfen, sie bei sich versteckt und sie gerettet haben. Zwischen fünf- und zehntausend deutsche Juden, schätzen Historiker, haben sich für den Weg in den Untergrund entschieden, etwa die Hälfte davon in Berlin. Etwa 2000 von ihnen haben den Nazi-Terror in Berlin überlebt. Im Verhältnis zur Zahl der etwa 170000 vertriebenen und ermordeten jüdischen Bürger Berlins ist das eine entsetzlich kleine Zahl. Wenn man jedoch berücksichtigt, wie oft die Versteckten ihr Quartier wechseln und wie viele Helfer sie in Anspruch nehmen mussten, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Kaum einer der Untergetauchten konnte in e i n e m Versteck und bei e i n e m Helfer bleiben. Die meisten sahen sich, oft von einer Minute zur nächsten, gezwungen, das Quartier zu wechseln und sich anderen Helfern anzuvertrauen. Wolfgang Benz, der mit seinen Mitarbeitern am Zentrum für Antisemitismus-Forschung in Berlin derzeit eine Datei über "Rettungsaktionen für jüdische Bürger" erstellt, geht von der folgenden Faustregel aus: um einen Juden zu retten, waren mindestens sieben Unterstützer nötig. Diese Schätzung ist womöglich zu vorsichtig. Der Studienassessor Ludwig Collm, der im Oktober 1942 mit seiner Familie in Berlin abtauchte, zählt 20 Versteck-Adressen auf, die Schriftstellerin Inge Deutschkron berichtet, dass sie mit ihrer Mutter 22 Mal das Quartier wechseln musste, der Musiker Konrad Latte macht fünfzig Helfer namhaft. Aber auch diejenigen, die im Untergrund zu überleben versuchten und gefasst wurden, hätten den Versuch nicht wagen können, hätten sie nicht auf Freunde und Bekannte zählen können. Wie viele Berliner insgesamt den Anstand und den Mut aufbrachten, ihre jüdischen Mitbürger vor den Nazi-Häschern zu schützen, wird man nie genau erfahren - zwanzigtausend, dreißigtausend? Aber man muss das auch nicht wissen, um dieser keineswegs repräsentativen, aber bewundernswerten Minderheit Achtung zu erweisen. Knapp dreihundert von ihnen sind mit dem israelischen Orden für die "Gerechten der Völker" geehrt worden. In der Stadt, in der sie wirkten, sind sie weitgehend unbekannt geblieben.

 

Ein seltsames, im Alten Testament nicht diskutiertes Szenario tut sich auf. Wie würde der Gott des Alten Testaments mit einer Stadt verfahren, die ihre Gerechten gar nicht kennt? Nicht, dass es an historischen Studien, Biographien, Fachveröffentlichungen fehlte. Aber bis zu Spielbergs Film "Schindlers Liste" sind die Geschichten der Retter - allen Anstrengungen der Geretteten zum Trotz - nicht ins Bewusstsein einer breiteren deutschen Öffentlichkeit vorgedrungen. Wie ist diese Nichtbeachtung zu erklären?

Sind die Mörder interessanter, und - im Zeitalter des "Infotainment"- schlicht und einfach besser verkäuflich als die Retter? Es gibt durchaus seriöse, scheinbar zwingende Gründe für die Einseitigkeit des Interesses. Während der jahrzehntelang betriebenen Verleugnung und Verharmlosung der deutschen Schuld war es vordringlich, die Täter zu überführen und zur Rechenschaft zu ziehen. Wer sich um eine Würdigung der wenigen „stillen Helden“ (Inge Deutschkron) bemühte, die den Verfolgten Schutz gewährten, musste fast automatisch in den Verdacht geraten, eine Vertuschung oder Reinwaschung der deutschen Vergangenheit zu betreiben - ganz in der Tradition jener verlogenen Nachkriegsformel, mit der Millionen Deutsche sich nach dem Kriege zu exkulpieren suchten: "Mein bester Freund war ein Jude“. Aber das Argument, die Geschichten der Retter könne sich zur Verharmlosung der deutschen Schuld missbrauchen lassen, hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. In Wirklichkeit macht das Beispiel dieser Wenigen die Schuld der vielen Mitläufer und Zuschauer nicht etwa kleiner, sie vergrößert sie. Denn es widerlegt den Rechtfertigungsmythos der Kriegsgeneration, der Terrorapparat der Nazis sei so perfekt gewesen, dass jenseits des Gehorsams nichts übrig blieb – es sei denn, man war bereit, sein Leben zu opfern. Über die Hitler-Attentäter und die Männer des 20. Juli sind ganze Bibliotheken voll geschrieben worden, ein deutscher Feiertag ist nach ihnen benannt – wohl auch deswegen, weil ihr Schicksal das Versagen der deutschen Zivilgesellschaft zu erklären schien: Da seht ihr es! Wer sich widersetzte, wurde gehenkt oder an die Wand gestellt! Das Beispiel der kleinen, bis heute unbekannten Helden, die Juden versteckt und gerettet haben, spricht gegen diese Interpretation der Geschichte. Es zeigt, dass die Alternative zwischen willfährigem Gehorsam und todesbereitem Widerstand viel zu grob ist. Offensichtlich konnte man eben doch etwas tun, ohne gleich sein Leben zu riskieren. Eben aus diesem Grund bedroht die Erinnerung an diese „anderen Deutschen“ das Selbstbild der Mitläufer viel nachhaltiger als die Geschichte der Widerstandskämpfer und Attentäter, die bewusst ihr Leben im Kampf gegen Hitler aufs Spiel setzten und verloren. Heldentum kann man bekanntlich nicht verlangen. Einem Verfolgten und Geächteten eine Lebensmittelkarte zustecken, ihn bei sich übernachten lassen, ihm eine nächste Unterkunft besorgen, dazu brauchte es Anstand, List und Mut, aber nicht gleich Todesbereitschaft. So bringt die Geschichte der stillen Helden eine Störung in das Bild vom Alltag unterm Hakenkreuz. Mit Daniel Goldhagens verführerischem Angebot an die jungen Deutschen: gebt mir Eure Großväter (allesamt von einem "eliminatorischen Antisemitismus" beseelte, potentielle Mörder!), dafür gebe ich euch die Unschuld (weil ihr jung und in einer Demokratie aufgewachsen seid!) - kann die Geschichte, die hier erzählt wird, nicht konkurrieren. Denn sie zeigt, dass niemand per Generation schuldig oder unschuldig ist. Selbst in den Jahren schlimmsten staatlichen Terrors gab es Raum für eine kleine Wahl, und es gab Bürger, die diese Chance ergriffen.