Buchauszug

 

Der folgende Auszug aus dem Buch „Von der Wiederherstellung des Glücks – eine deutsche Kindheit in Frankreich" (Anna Tüne/Galiani Verlag Berlin, 2010) gibt die wesentlichen Elemente der Geschichte Dieulefits wieder:

 

Okkupation in Dieulefit (Anna Tüne)

Dieulefit ist eine Kleinstadt im Südosten Frankreichs. …


Die Kleinstadt und ihr Landkreis, die den Namen Gottes führen, leisteten im zivilen Widerstand gegen die Abscheulichkeiten des Vichy-Regimes und gegen den Nazi-Terror unter der deutschen Okkupation einen außerordentlichen Beitrag. Man hat es das «Wunder von Dieulefit» genannt und dieses Wunder bestand vor allem darin, dass diese kleine Stadt mit ihren circa dreitausend Einwohnern und im ländlichen Umfeld knapp ebenso vielen, über eintausend Flüchtlinge und Verfolgte hat schützen, verstecken und ernähren können. Dass niemand verraten wurde, ist das Erstaunlichste daran, denn an manchen französischen Orten war dies völlig anders. Dieser ungewöhnliche, intelligente und sehr erfolgreiche zivile Widerstand wurde entscheidend geprägt von einzelnen Individuen, die allerdings in einem Umfeld agierten, das dem Geist des freien Denkens und des beherzten Handelns zugetan war. Die Urheber dieses Erfolges waren liebenswerte, eigensinnige und überaus nonkonformistische Helden:

 

  • Es gab eine geniale Pass- und Dokumentenfälscherin, eine junge Stadtsekretärin und gläubige Protestantin, der die ersten vermeintlich „kriminellen“ Taten ungeheuer schwer gefallen waren. Die von ihr gefälschten Papiere und Lebensmittelmarken haben hunderten Menschen Sicherheit und die notwendige Nahrung gegeben. Der von der Vichy-Regierung eingesetzte Bürgermeister kniff jahrelang vor ihrer gefährlichen Arbeit beide Augen zu.
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  • Es gab vorneweg drei beherzte Pädagoginnen, die ein Schulinternat gegründet hatten und es schon seit den 20er Jahren im Zeichen einer freundlichen Reformpädagogik führten. Sie selbst waren im Geiste des kritischen und rebellischen Hugenottentums aufgewachsen. Zwei von ihnen waren in der Zeit ihrer Heldentaten Kommunistinnen. Sie haben niemals geheiratet und jede von ihnen adoptierte mindestens ein verlassenes Kind. Sie versteckten und schützten die Kinder von politisch und rassisch Verfolgten ebenso selbstverständlich, wie sie vorher Kinder aus verletzenden familiären oder sozialen Verhältnissen oder auch Kinder aus den Kampfgebieten des spanischen Bürgerkrieges aufgenommen hatten. Alle Kinder ihrer Schule haben überlebt. Die Frauen schafften es sogar, in den Jahren der Illegalität deren Schulbildung zu sichern. Auf ihrem weitläufigen Gelände standen mehrere, zum Teil selbst entworfene und selbst erbaute Gebäude. Die ungewöhnliche Schule, mit zum Teil illegal arbeitenden, verfolgten Lehrern, war das Zentrum des lokalen Widerstandes, hier liefen alle Fäden zusammen.
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  • Es gab ein weiteres Internat, in dem größere Kinder inmitten « regulärer » Schüler versteckt wurden, und sogar ihre Abiturprüfung ablegten.
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  • Es gab eine ganze Riege von Intellektuellen verschiedenster Nationalität und ethnischer, religiöser und philosophischer Provenienz, die vielfach in den Schulen unterrichteten und mit Vorträgen, Abendkursen, Musik- und Chorstunden ein reiches kulturelles Leben in Dieulefit ermöglichten. So gab es den Philosophen Emmanuel Mounier, der an diesem Ort seine katholische, personalistische Soziallehre entwickelte und noch in der Illegalität die Zeitschrift „Esprit“ gründete. Henri Pierre Roché schrieb in der Dachkammer eines der Internate sein später weltberühmtes Buch « Jules und Jim ». Alle verband, so treu sie auch den Wurzeln ihres jeweiligen kulturellen und philosophischen Herkommens blieben, ein entspannter, fast heiterer,  libertärer Geist, ein hochkommunikativer  Nonkonformismus und selbstverständlich eine klare Ablehnung der Ideologie des Okkupanten und seiner französischen Stadthalter in Vichy. In Dieulefit schrieben Dichter, Publizisten, Philosophen und Journalisten Texte, die in illegalen Büchern, Zeitschriften und Flugblättern überall in Frankreich eine weite Verbreitung fanden.  Es heißt, im okkupierten Frankreich gab es drei intellektuelle Zentren: Paris, Lyon und Dieulefit.
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  • Es gab kleine Kliniken und Sanatorien und ihnen angeschlossene Familienpensionen in diesem Luftkurort, in denen gesunde und kranke Verfolgte inmitten anderer Kranker versteckt, und falls erforderlich, gepflegt und geheilt wurden. In den letzten Monaten vor der Befreiung, in denen die Zahl der Verletzten aus den Kampfgebieten der Partisanen-Einheiten sehr anstieg, richteten Ärzte und Pflegepersonal in einigen einsam gelegenen Privathäusern Notlazarette ein, in denen man auch Operationen vornahm.
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  • Es gab mutige Pfarrer und Priester, die ihre Zustimmung zu diesem Errettungswerk nicht nur von der Kanzel herab gaben.
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  • Es gab zwei deutsche Antifaschisten, eine Frau und einen Mann, die auf der Flucht zueinander gefunden hatten und in Dieulefit als Ehepaar aus dem Elsass galten, was ihren unüberhörbaren Akzent halbwegs erklärte. Sie nutzten beide ihre im Spanischen Bürgerkrieg und in Moskau erworbenen logistischen, konspirativen und paramilitärischen Kenntnisse, um die in Berg-Camps versteckten jungen Männer, die als designierte Fremdarbeiter zum Einsatz nach Deutschland geschickt werden sollten, für den Widerstand auszubilden. Auch hatten sie großen Anteil an den nächtlichen Entgegennahmen der mit Fallschirmen abgeworfenen Munitions- und Medikamentenkisten der Air Force und ihrer Weiterleitung in die Kampfgebiete. Die Frau hatte früher das Schneiderhandwerk gelernt und der Mann kannte sich ein wenig mit Gartenarbeit aus. So kamen sie viel herum. Ihre Kontakte zu den Bauern des Plateaus oberhalb Dieulefits, auf dem das verfallene Berggehöft stand, das ihnen als Unterschlupf diente, erwiesen sich als mitentscheidend, um die Ernährung der vielen illegalen Kinder und Erwachsenen im Ort zu gewährleisten.

 

Es haben sehr viele Menschen am Wunder von Dieulefit mitgewirkt. Hier hat sich bestätigt, dass Widerstand nicht allein und zwangsläufig im unmittelbar Unterdrückten heranwächst, er kann im Gegenteil ebenso gut beim Anblick der Unterdrückung eines Nächsten entstehen. Das Phänomen der „compassion fatiguée“, des in der Überfülle der Not ermüdenden Erbarmens,  hat hier nicht gegriffen. Das Erbarmen ist wach und pragmatisch geblieben, bis zum Schluss.


Dieulefit hat sein Wunder nicht nur aktiv herbeigeführt, es hat auch Glück gehabt. Natürlich ging viel Angst um. Verhängnis und Tod streiften um das Ländchen von Dieulefit herum. Das ist der zweite Teil des Wunders: Deutsche und französische Schergen haben es offenbar übersehen. In der nahen Stadt V. waren im Zuge einer Vergeltungsaktion alle männlichen Bewohner von vierzehn Jahren an bis hoch ins Greisenalter zusammen getrieben worden. Sie wurden an der Stadtmauer aufgestellt. Jeder dritte musste dort stehen bleiben in der willkürlichen Reihenfolge in der sie eingetroffen waren. Diese wurden dann erschossen, einige Dutzend Männer, Zivilisten zwischen vierzehn und achtundachtzig Jahre alt. In N. wurde ein junger, mit dem Maquis kooperierender  Arzt verhaftet und zu Tode gefoltert. Auf dem recht nahe gelegenen Vercors, einem Hochplateau, auf dem sich viele bewaffnete Partisanen-Verbände nach und nach sammelten, fand ein grauenhaftes Gemetzel statt.


Immer wieder genährte Angstphantasien können aber auch zu paranoischen Wahrnehmungen führen. So wurde ein höchstwahrscheinlich ebenfalls verfolgter, deutsch sprechender Zahnarzt, der sich in Dieulefit eine Praxis einrichtete und irgendwann vorsichtig nach deutschen Flüchtlingen fragte, sofort als Gestapo-Mann stigmatisiert. Einwände, dass die Gestapo sich wohl kaum die Mühe der Einrichtung einer Zahnarztpraxis in einer kleinen südfranzösischen Stadt machen würde, drangen nicht durch. Jemand meinte sogar, den mutmaßlich auch in den Labyrinthen der Illegalität verlorenen und daher Kontakt suchenden Zahnarzt, in Marseille in der finsteren Kluft der SS gesehen zu haben.

Die Landung der Alliierten im Juni 1944 an den französischen Küsten, spülte das Ländchen kurzfristig vom zivilen in den militärischen Widerstand. Mit Fahnen und Handwaffen stürmten Partisanen, unter ihnen etliche Mutige der letzten Tage, besonders lautstark die Stadt. Sie entfernten das Portrait Pétains aus allen öffentlichen Gebäuden, flaggten die Trikolore und die Rote Fahne, wo auch immer es ging und man feierte zwei Tage lang die Freiheit. Als klar war, dass das letzte Gefecht noch ausstand, rückte die bunte Truppe wieder aus und hinterließ einige zerbrochene Scheiben und Ratlosigkeit. Fast alle heranwachsenden Jungen, legale wie illegale, folgten dem begeisternden Trupp in die Berge.


Die Befreiung, die sie alle so herbeigesehnt hatten war nicht aufzuhalten: einige Wochen später fuhren die ersten Jeeps der US-Army in Dieulefit ein. Fröhlich war die nicht enden wollende Siegesfeier vor dem kleinen Rathaus, man tanzte und sang. In der Fassadennische aus der sie entfernt worden war, stand wieder die Marianne, die Republik als Frau. Ein schon länger konstituiertes Befreiungskomitee übernahm die Verwaltung und die schwere Aufgabe einer Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, so auch der Eindämmung von Vergeltungsakten und anderer Willkür. Denn es war „der Teufel“ los, kleine Horden von Siegern hatten sich auf die Spur der vermeintlich oder tatsächlich Besiegten gesetzt. Während der Siegesfeier entstand plötzlich Hektik. Maguy, die Internatsdirektorin, rannte mit fliegenden Röcken, von zwei jungen Bewaffneten begleitet, auf den Stadtpark zu. An der Parkmauer sah man sie schon, mit ihren Gewehren fuchtelnd standen sie einem Einzelnen gegenüber. Sie hatten ihm bereits übel mitgespielt, sein Gesicht war blutverschmiert. Sie hatten sich den trunksüchtigen deutschen Maler WOLS bereits zum Abschuss vor die Wand gestellt. Maguy, die sie alle kannten,  fuhr in die Gruppe drein wie ein Engel des Herrn, mit flammenden Augen und wilder Haarmähne verteidigte sie den „Allemand“ gegen die Behauptung, er sei ein “Boche“ und gehöre an die Wand gestellt. Sie erklärte, das vermeintliche Nazi-Schwein sei ein deutscher Nazi-Feind. Es schämten sich nicht alle, aber sie gaben nach. Maguys Begleiter nahmen den Maler in ihre Mitte und brachten ihn zum Rathaus, wo er einige Tage zu seinem eigenen Schutz blieb.


So wurde auch die Geschichte des Malers WOLS in Dieulefit zu einem guten Ende geführt. Man hatte geglaubt, einen armen verrückten Säufer, einen anstrengenden, sehr eigenartigen und sehr wenig dankbaren Deutschen zu retten und hatte damit in Wahrheit einen der Zauberer der Malerei des zwanzigsten Jahrhunderts im Leben festgehalten. Gleich nach diesem Ereignis hat Maguy einem befreundeten deutschen Widerständler einen Zettel ausgehändigt. Darauf stand, dass er zum Widerstand gehöre und dass man sie jederzeit fragen könne, sie bürge für ihn.