Thomas Keller (Aix Marseille Universität)

Vom Exil zum Gedenken: Deutsch-Französische Gedächtnisorte im Midi Frankreichs

 

1. Deutsch-französische Gedächtnisorte

 

Ist es nicht erstaunlich, wie viele deutsch-französische Gedächtnisorte es im Südosten Frankreichs, so weit von der deutschen Grenze entfernt gibt? Die Beispiele sind zahlreich: Sanary, Les Milles, Port Bou, Dieulefit… Auf den ersten Blick scheint die Existenz von Orten, die man als deutsch-französisch bezeichnen könnte, hier wenig wahrscheinlich zu sein, da Kampfstätten, Stätten des Krieges und des Friedens abwesend sind. Die Gedächtnisorte dieser Region weisen oft auf das Schicksal der antinazistischen deutschen und österreichischen Exilierten hin, die eine gewisse Berühmtheit erlangt haben. Andere sind versteckter, wenig bekannt und manchmal sogar sonderbar. Das Grabmal des Marquis d’Argens, das Friedrich II. von Preußen in Aix hat errichten lassen, oder der Pavillon Noir in Aix, der die Lampen des Ostberliner Palasts der Republik beherbergt, sind solche Beispiele.

Alle diese deutsch-französischen Gedächtnisorte kommen weder in Lieux de mémoire von Pierre Nora noch in Deutsche Erinnerungsorte von Etienne François und Hagen Schulze vor. Der explizit nationale Rahmen von Lieux de mémoire hat nicht verhindert, dass zwischen verschiedenen Gruppen – Juden, Armenier, Sinti und Roma, Sklaven, Kolonisierte –, die ihre Leiden anerkannt sehen wollen, memorielle Kämpfe ausgebrochen sind. Pierre Nora beklagt heute persönlich den Krieg der Gedächtnisse. Obwohl nur das erste Werk den nationalen Rahmen einzieht, bieten beide Werke Orte, die in der Einleitung von Deutsche Erinnerungsorte als „geteilt“ bezeichnet werden: Verdun, der Spiegelsaal im Schloss von Versailles, der Waggon von Rhetondes, Karl der Groβe, die Völkerschlacht von Leipzig…. Sie sind häufig asymmetrische Spiegel. Das was für Franzosen einen Sieg symbolisiert, z.B. die Gare d’Austerlitz oder die Metrostationen Iéna und Verdun, repräsentiert für Deutsche die Niederlage. Nur im Land des Siegers können sie Gedächtnisort werden. Obwohl viele Siegesorte in Deutschland verschwunden sind, haben doch einige Sedanstrassen oder der Pariser Platz in Berlin überlebt. Aber wer weiss schon, dass die Bezeichnung des Platzes vor dem Brandenburger Tor, der heute die Botschaft Frankreichs beherbergt, an die Niederlage Napoleons erinnert? An der Avenue de Iéna liegt heute das Goethe-Institut. Diese Orte sind geteilt im Doppelsinn: sie verbinden und sie trennen. An ihm treffen sich verschiedene Sinnansprüche. Sie vermischen allerdings nicht die Gedächtnisse der betreffenden Personen und Gruppen. Sie reissen den nationalen Rahmen ihrer Gedächtnisse nicht ein, bringen ihn aber in eine Beziehung zu einem anderen nationalen Gedächtnis.

Nun weiten seit einiger Zeit die Werke, die den Gedächtnisorten in Frankreich und Deutschland gewidmet sind, die Perspektive und die Herangehensweise aus. So integriert Michael Werners Artikel über die Rezeption der Germania von Tacitus oder Michel Espagnes Artikel über De l’Allemagne von Mme de Staël (aus der Übersetzung von Deutsche Erinnerungsorte ins Französische ausgeschlossen) bisher nicht ausgeschöpfte Gedächtnisarchive, indem sie Transfers von Gegenständen, Gütern und Texten einbeziehen. Die einzelnen Beiträge zu Versailles, zu Napoleon und zur Völkerschlacht bei Leipzig überschreiten den nationalen Rahmen ebenso wie die Artikel über Made in Germany und Volkswagen. Die Transfers kreuzen und verflechten verschiedene Gedächtnisse.

Diese Entwicklung der Forschungsansätze scheint der neueren Tendenz in der zwischenstaatlichen Gedächtnispolitik zu entsprechen, die Besiegten in die Siegesorte zu integrieren. Seit langer Zeit gedenken Franzosen und Deutsche gemeinsam der Schlächterei von Verdun. Die Geste von Mitterrand und Kohl, die sich die Hände halten, personalisiert die Vergangenheit und integriert das Gedächtnis in die – problematische - Ikonographie des Paars. Präsident Chirac hat Kanzler Schröder zu den Feierlichkeiten anlässlich des 60 jährigen Jubiläums zur Landung der Alliierten in der Normandie eingeladen. Angela Merkel hat gemeinsam mit Nicolas Sarkozy einen Kranz am Grabmal des Unbekannten Soldaten am Arc de Triomphe während der jährlichen Zeremonie am 11. November, Tag des Waffenstillstands von 1918, niedergelegt. Schliesslich konnte Joachim Gauck zusammen mit François Hollande und dem Überlebenden Roland Hébras 2013 in Oradour sur Glane den wohl letzten kritischen Ort in Frankreich öffnen, der dem staatlich organisierten Gedenken widerstanden hat .

Die konkreten Orte, an denen material zwei Gruppen und damit verschiedene kulturelle Rahmen aufeinandertreffen, werden zu monokulturellen, insbesondere nationalen Gedächtnis- und Gedenkorten nur der Sieger. Sie können sich dann dem Gedächtnis der Besiegten öffnen und sich auch symbolisch pluralisieren, etwa in gemeinsamen Kranzniederlegungen. Dass die Historiker und Kulturwissenschaftler, aber auch die Politiker den nationalen Rahmen überschreiten, zeigt freilich nicht ein gemeinsames Gedächtnis und auch nicht das Ende des Kriegs der Gedächtnisse an. Selbst als Willy Brandt 1970 am Ort des früheren Warschauer Ghettos auf die Knie gefallen ist, hat die Geste nicht unbedingt und allerseits eine versöhnende Wirkung gehabt. Die Ausrottungspolitik der Nazis hat auch viele nicht-jüdische Polen das Leben gekostet. Ihre Nachfahren mögen sich nicht hinreichend anerkannt fühlen. Die gemeinsame Materialität und Medialität des Ortes und des Gedenkens täuscht insofern über ein Konfliktpotential hinweg.

Das Attribut „geteilt“ bezeichnet sehr Verschiedenes, nämlich verbindendes, getrenntes, paralleles und gemeinsames. Versailles oder auch der Waggon de Rhetondes sind geteilte deutsch-französische Gedächtnisorte als getrennte. Sie beziehen sich zwar materiell auf den selben Ort, bedeuten aber funktional und symbolisch für den einen Niederlage, wo sie für den anderen Sieg bedeuten. Sie sind chiastische Inversionsorte, an dem Sieg und Niederlage getauscht werden. Insofern sind sie als Serie Materialisierungen mimetischer Gewalt. Die Inversion verdankt sich Retourkutschen. Der Spiegelsaal von Versailles, 1871 von der siegreichen Führung des neuzugründenden Kaiserreiches als demütigender Ort der Kaiserkrönung gewählt, wird nach dem Ersten Weltkrieg als Ort auserkoren, wo die deutsche Niederlage vertraglich besiegelt wird. Der Waggon von Rhetondes, wo 1918 der Waffenstillstand mit dem besiegten Deutschland abgeschlossen wird, wird 1940 bewusst hervorgeholt, um den Waffenstillstand mit dem besiegten Frankreich ein besonders demütigendes Gepräge zu geben. Diese Orte sind Kippstellen. Sie sind Dritte, die verbinden, trennen und Konflikte erzeugen. Um es auf den Punkt zubringen: sofern Gedächtnisorte materiell gemeinsame Dritte sind, können sie nicht nur funktional und symbolisch, sondern auch ganz real Gewalt anheizen.

Verdun ist nicht in derselben Weise wie Versailles oder der Waggon von Rhetondes ein geteilter Gedächtnisort der Trennung, da er weniger ein Ort des Sieges als Ort von Totengedenken für Deutsche und Franzosen ist. Indes, jüngst hat Christa Karpenstein-Essbach gezeigt, dass bereits 1930 in Chlumbergs Groteske von der Wiederauferstehung der Toten die gewalterzeugende Wirkung des Gedenkens drastisch auf die Bühne kommt . Sieger und Besiegte haben nicht wirklich an Orten des Kriegsgeschehens funktional und symbolisch einen gemeinsamen Ort. Das Gedenken ist wohl eher parallel und ist als solches anfällig für Kippen in Konflikte. Insofern wird die Frage nach der Gruppenidentität, der sozialen bzw. kulturellen Rahmung wichtig. Lässt das Gedenken überhaupt eine „gemischte“ Gruppe oder Mehrfachzugehörigkeiten zu?

Seit einigen Jahren ermitteln die Forscher deutsch-französische Gedächtnisorte neuen Typs. Sie sind häufig in Grenzregionen zu finden. Die Wanderung sowie die schwindende Bedeutung der Grenzen, wechselnde nationale Zugehörigkeiten, kriegerische Ereignisse und Verflechtung entziehen sie nationalen und schlechthin monokulturellen Kategorisierungen . Diese Tendenz zur Pluralisierung und Verflechtung lässt sich auch in Beschreibungen von Monumenten beobachten, die zur Ehrung der Résistance errichtet sind. Mechtild Gilzmer zeichnet den Weg nach, der von lokalen und nationalen Denkmälern (das Denkmal zum Gedächtnis der Erschossenen von Châteaubriant, das Denkmal in Chasseneuil/Charente, das Denkmal am Mont Valérien, die Gedenkstätte des Vél d’Hiv, die Gedächtnisstätte des KZ Natzweiler-Struthof) bis zu den « sentinelles de la mémoire“, das heiβt zu den Pfaden führt, die die zahlreichen Nicht-Franzosen ehrt, die in der Résistance gekämpft haben. Diese Gedächtnisarbeit führt dazu, dass die Geschichte der Résistance neu geschrieben und ihre nicht-französische Komponente ans Licht geholt wird. Neu ist auch, das Augenmerk auf die Verpflanzung und die kulturelle Verflechtung der Deportierten mit dem Exilland zu richten.

Mit der Rückbindung an den Ort im Gedenken kommt auch wieder eine materiale Ebene ins Spiel. Sind Texte auch material „geteilte“ Gedächtnisorte? In Lieux de mémoire kommen etliche Texte vor, etwa A la recherche du temps perdu von Proust, das Schulbuch Le Tour de France par deux enfants und der Code Napoléon. Sie sind als national eingeordnet. Dies leuchtet vor allem für die beiden ersten Texte ein. Sie verankern auch einen imaginierten Ort im kollektiven Gedächtnis, kanonisieren ihn im nationalen Kontext. Der Ort der Kindheit in der Recherche, olfaktorisch erinnert auch als Ort der Madeleine, wird über Bildung einer ganzen Nation vertraut. Die Gesamtheit der Regionen, die die französische Willensnation bilden, wird in Le Tour de France von den französischen Schülern erlesen. Der Code Napoléon stellt in Frankreich Rechtsgleichheit her und eint insofern die Rechtspersonen zur französischen Nation. Das Gesetzbuch erweist sich aber auch als gut übertragbar, auf das Königreich Westphalen oder auch auf Baden, wo es wie in Frankreich Rechtsgleichheit herstellt.

Damit Texte als Gedächtnisorte firmieren, müssen sie eine eigene Materialität und Medialität haben: eine hohe Verbreitung, auch Dauer in der Zeit. Um geteilte Orte im Bewusstsein zu bilden, müssen Texte materiell und medial zwei Kontexte verbinden. In Deutsche Erinnerungsorte bildet „De l’Allemagne“ einen geteilten Text. Der Text einer französischen Autorin über Deutschland stellt über viele Jahrzehnte in Frankreich den Referenztext für Deutsches dar. Übersetzt entfaltet er auch im deutschen Publikum seine Wirkung. Seine Besonderheit ist, dass hier ein Fremdbild eine kanonische Gültigkeit erlangt hat. Ist dieser Ort getrennt, parallel oder gemeinsam? Das Bild vom Volk der Dichter und Denker scheint Konflikte zu mindern. Aber er stiftet nicht unbedingt Frieden. Bereits Heine erklärt ihn zum Text, der den deutschen Eindringlingen und französischen Reaktionären hilft, das revolutionäre Frankreich zu besiegen.

Wie steht es nun mit Vertragstexten, insbesondere Friedensverträgen? Erklingt das Wort „Versailles Vertrag“ verbindet sich damit sofort im Bewusstsein das Bild eines Schlosses, in dem ein misslungener Frieden ausgeheckt wurde. Das Wort Elysée-Vertrag lasst dagegen wohl kaum das Bild des französischen Präsidentenpalastes entstehen. Gleichwohl wird der Elysée-Vertrag inzwischen als deutsch-französischer Gedächtnisort herausgestellt , der die deutsch-französische Aussöhnung symbolisiert. Anders als die Friedensverträge zwischen 1815 und 1920 sind Locarno-Vertrag und der Elysée-Vertrag keine Revanche-Texte. Was die Materialität der Texte angeht, so muss zunächst die Übersetzung erfolgen und Übereinkunft sichergestellt werden, so dass der Inhalt in zwei Sprachen festgelegt ist. Nun ist der Elysée-Vertrag fast ohne Inhalt. Die Hinzufügung der Präambel hat ihn sofort zu einem Zankapfel gemacht. Auch kann man bestimmt nicht sagen, dass ihn eine grosse Zahl von Deutschen und Franzosen gelesen hat. Er ist materiell sicherlich nicht geteilt. Erst die verschiedenen Zeremonien, die den ungelesenen Text zu einem Mythos machen, lassen einen Gedächtnisort Traité de l’Elysée entstehen. Erst dieser Mythos ist gemeinsam, nicht der Text selbst. Eine mediale Öffentlichkeit hat sich in beiden Ländern herausgearbeitet, die sich auf den (unbekannten) Text bezieht. Die Tatsache von Radio- und Fernsehsendungen mit gemischten Interviewern und Interviewpartner ist ein Indiz dafür, dass etwas Gemeinsames bezeichnet wird. Aber es gilt auch: gerade, da der Text materiell keine geteilte Grundlage bildet, wird Verständigung möglich.

Auch Migrationsorte könnten wohl kaum ohne Textarchive den Weg zum Gedenkort gehen.

 

Deutsch-französische Migrationsorte

 

Die deutsch-französischen Gedächtnisorte im Midi Frankreichs unterscheiden sich gemeinhin von den einschlägigen nationalen wie auch von den hier erwähnten geteilten Gedächtnisorten. Sofern sie Orte sind, aus denen Menschen vertrieben werden oder die Migranten aufnehmen, sind sie zwangsläufig geteilte Gedächtnisorte, die sich aller nationalen Vereinnahmung widersetzen. In diesem Sinne ziehen Migrationen mehrkulturelle und gemischte Orte nach sich. Die historischen und künstlerischen Dokumente bestätigen dies nachträglich. Indes existiert bisher kein theoretischer Rahmen, um die deutsch-französische Dimension solcher Orte zu erfassen. Der Forscher muss das Konzept der Gedächtnisorte anpassen, um zu verstehen, wie ein Migrationsort sich in einen geteilten Gedächtnis- und Gedenkort verwandeln kann. Die Beschreibung eines Migrations- oder sogar Exilorts, manchmal eines « guten » wie Sanary und Dieulefit, manchmal eines schlechten wie die Internierungslager Les Milles, Gurs, Rivesaltes etc., erfordert neue Instrumente, um zu verstehen, wie ein Migrationsort einen Status erreichen kann, der als transkulturell gelten kann.

In Anbetracht der « Konkurrenz » der Opfergruppen, die nach Aufnahme in die Gedächtniskultur streben, ist es nicht selbstverständlich, eine weitere Gruppe, die Migranten und Exilierte, hinzuzufügen. Sie sind durch heterogene und transversale Zugehörigkeiten geprägt. Indes trifft sie Verachtung, mangelnde Anerkennung und Vergessen auf besonders schmerzliche Weise, da die Migration häufig erzwungen ist und ihr Leiden aus dem nationalen kollektiven Gedächtnis sowohl der Herkunftskultur als auch der Aufnahmekultur ausgegliedert ist.

Der prekäre Status des Gedächtnisses und des Gedenkens lässt sich bereits für den Fall der Verfolgungen der « Ketzer » im Süden Frankreichs beobachten. Man musste lange warten, um auf ihre Spuren zu stoβen. Die Stele in Montségur, die 1960 errichtet wurde, gedenkt der Katharer, die 1244 getötet wurden. Der Weg der Erinnerung in Mérindol, der 1977 von deutschen, französischen und italienischen Waldenservereinen geschaffen wurde, erinnert an das an den Waldensern begangene Massaker von 1545. Der europäische Weg „Auf den Spuren der Hugenotten“ beginnt am Museum des Protestantismus der Dauphiné in Poët Laval; er soll Richtung Norden in Zusammenarbeit mit deutschen Vereinen bis Carlsdorf (Hessen) und Wurmdorf (Baden-Württemberg) und gen Süden bis Mérindol verlängert werden. Im Turm Constance in Aigues Mortes, wo Marie Durand von 1730 bis 1748 gefangen gehalten wurde, kann man den Stein sehen, in den die unbeugsame Protestantin « récister » ritzte. Informationen über die französischen Waldenser und Protestanten sowie die Nachbildung des Steins mit dem Wort „récister“ befinden sich im Hugenottenmuseum von Bad Karlshafen in Deutschland. Das Gedächtnis dieser Personen und Gruppen reibt sich noch immer an Hindernissen. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit trägt dazu bei, die Blockade aufzulösen. In ihrem Herkunftsland genieβen die Migranten nicht immer eine klare öffentliche Wertschätzung und einen Konsens, der ihrer leidvollen Geschichte gerecht wird.

Im 20.Jahrhundert wiederholt sich dieser Mechanismus. Die französischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter haben keine Denkmäler in Frankreich. In Deutschland hingegen existieren solche, in Bittermark und Grossbeeren . Parallel hierzu brauchen auch die deutschen Exilierten, die vor dem Nationalsozialismus fliehen, eine lokale Unterstützung, die sich am Exilort selbst, am Aufnahmeort manifestiert.

Die Funktion, die Halbwachs im kollektiven Gedächtnis herausgestellt hatte, nämlich Gruppenidentität herzustellen, wird in geteilten und pluralen Gedächtnisorten fragwürdig.

Vom Migrations- zum Gedenkort: die Etappen

Die verschiedenen Etappen, die vom Migrations- zum Gedenkort führen, lassen sich systematisieren . Der Migrationsort bezeichnet die Bedingungen und Ereignisse am Ort selbst zum Zeitpunkt des Aufenthalts der Migranten. Er verzeichnet die Beziehungen zwischen den Migranten und der lokalen Bevölkerung. Diese Erfahrung hinterlässt einen Abdruck bei den Migranten. Der Ort wird damit ein Erinnerungsort. Er stellt ein subjektives Erleben vor, das sich vom Ort selbst ablöst und sich in das kommunikative Gedächtnis der Migranten einpflanzt, die den Ort verlassen, aber ihre Erinnerungen mit sich nehmen. Wenn sie diese Erinnerungen in Archiven, in Form von Fotos, Bücher, Bilder fixieren, schaffen sie Gedächtnisorte, die ein kollektives kulturelles Gedächtnis darstellen, das vom subjektiven Erinnern abgespalten ist. Der Gedächtnisort wird ein Gedenkort, wenn die Erinnerungen und das Gedächtnis an den Migrationsort zurückgebunden werden: Schilder und Namen von Straβen oder Plätzen, Ausstellungen, Kataloge, Kolloquien nehmen eine Auszeichnung des Migrationsortes vor.

Viele Migrationsorte kommen über das Stadium des Erinnerungsorts nicht hinaus. Andere werden Gedächtnisorte über Dokumente, aber am Ort selbst findet man keine Spur. Obwohl die Transplantation meist vorübergehend ist, können die Migranten an den Ort ihrer Migration zurückkehren. Ihre Erinnerungen setzen sich dann in Bewegung und werden lebendig. Die Verpflanzten können den zum erneuten Mal erlebten Ort mit ihren Erinnerungen, mit dem durch Fotos, Büchern gefilterten Gedächtnisort und gegebenenfalls mit der Aktualität des ausgezeichneten Gedenkortes abgleichen. Dann stellt sich die Frage, ob der Gedenkort angemessen ist und den Erwartungen der Migranten entspricht.

Je mehr sich die deutsch-französischen Migrationsorte in Erinnerungs-, Gedächtnis- und Gedenkorte verwandeln, desto mehr sprengen sie den nationalen Rahmen. Die Migrationen – seien sie erzwungen oder mehr oder weniger freiwillig – hinterlassen über eine Weggabelung Spuren. Die Verpflanzten nehmen Erinnerungen vom Ort und ihren Bewohnern mit sich. Die lokale Bevölkerung kann ebenfalls ihre Erfahrungen mit den Migranten in das kollektive Gedächtnis integrieren. Aber die Erinnerungen sind verschieden, und die Speicherung der Erfahrungen in das kollektive Gedächtnis ist weniger wahrscheinlich als bei den Migranten. Indes bilden heute Orte wie Sanary und Les Milles ganz sicher eine deutsch-französische Gedächtnislandschaft für die interessierte deutschsprachige Öffentlichkeit und in einem geringeren Ausmaβ für die einheimische Bevölkerung.

Sofern die transkulturelle memorielle Dynamik der Erinnerung die verschiedenen Etappen von der Migration bis zum Gedenken durchläuft, erfüllt sie historiographische, künstlerische und gesellschaftliche Funktionen. Sie entspricht einem Bedürfnis nach Anerkennung, das nur in einer von Franzosen und Deutschsprachigen geteilten Resonanz befriedigt werden kann . Die Erfahrungen sind parallel, manchmal gekreuzt, aber nie deckungsgleich. Am Migrationsort treffen sich Ansässige und Fremde. Die Migranten und Einheimischen werden nach dem Weggang der Migranten geschiedene Träger von Erinnerungen. Sie übermitteln ihre Erinnerungen in verschiedene Archive. Sie veranstalten getrennt oder zusammen Vorgänge des Gedenkens.

Die Migrationsorte sind so Transformationen ausgesetzt, die Quelle von Konflikten sind. Sie sind Exilorte zunächst nur für die « Durchreisenden », die aus Nazideutschland vertrieben sind. Sie können für die Mehrheit der lokalen Bevölkerung kein Ort werden, der in erster Linie an den deutschen Widerstand in der Fremde erinnert. Das lokale Gedächtnis bleibt häufig monokulturell, die Exilierten spielen darin keine Rolle. Nur die Exilierten versorgen die Archive mit ihren Exilerinnerungen und schaffen so ein kollektives Gedächtnis weit entfernt vom Exilort. Dies vermindert die Aussicht, dass der Ort ein Gedenkort wird. Ein beträchtlicher Anteil der Internierungsorte, zum Beispiel das Fort Carré in Antibes, hat die Schwelle nie überschritten. In vielen Fällen, besonders in denjenigen der Internierungslager, hat fast nichts Materielles die Zeit überdauert.

Die unübersetzbare Formel von Nora « moins de milieu, plus de lieu (de mémoire) / je weniger Milieu, desto mehr Gedächtnisorte » scheint ganz besonders für Migranten zu gelten. Die Migrationen sind die Folge von ökonomischem Druck, von politischer Verfolgung oder wachsender Mobilität . Je erzwungener die Migration ist, desto stärker wird das Bedürfnis nach Anerkennung durch einen sichtbaren Ort. Der Migrant verliert seinen Herkunftsort. In der Regel erwartet kein vertrautes „Milieu“ den Migranten bei seiner Ankunft, es sei denn eine deutschsprachige Kolonie nimmt ihn auf. Wenn der Migrant den Ort gewählt hat, bringt er ein Bild, eine positive Topographie dieses Ortes mit. Dann folgt die konkrete Erfahrung, die Vorstellung und Realität aufeinanderprallen lässt. Die Migranten müssen sich Fähigkeiten aneignen, eine neue Sprache lernen oder ihre Kenntnisse verbessern, übersetzen, Mittlerkompetenzen erwerben... In den auf das Exil zurückblickenden Dokumenten bestimmen sie ihre Rolle und ihren Platz in der Kolonie und in der französischen Umgebung. Handelt es sich um einen traumatisierenden Ort, kann er Kennzeichen eines „Nicht-Orts“ haben , der nur schwer in Archive zu übertragen ist. So hat Max Ernst nur wenig in Les Milles gemalt. Er hat sich unauffällig gemacht, wie Franz Hessel. Dagegen scheint das Gedenken eine besänftigende und versöhnende Wirkung haben. Es gleicht die Abwesenheit des Milieus zur Zeit der Migration aus und trägt dazu bei, das erlittene Unrecht anzuerkennen. Indes löst der ausgezeichnete Ort auch neue Konflikte aus, wenn er nicht den verschiedenen Ansprüchen auf Anerkennung entspricht.

Die Gedächtnisarbeit ist mit der Notwendigkeit konfrontiert, die verschiedenen Erinnerungen und Gedächtnisse vereinbar zu machen. Sie braucht Mittler, die die Dokumente auswählen und in einen Zusammenhang bringen. Die Verwandlung in einen Gedenkort ist in der Regel das Werk einer gemischten Gruppe, in der Akteure zusammenarbeiten, die verschiedene Bedürfnisse, Interessen und Wünsche repräsentieren: die der Migranten und deren Nachkommen, die der lokalen Bevölkerung, die der Herkunftskultur der Migranten, die der französischen und deutschsprachigen Forscher. Die lokale Bevölkerung arbeitet bereitwilliger mit Vertretern der Migranten und Forschern zusammen, wenn der Ort in aufwertender Weise vorgestellt wird. So ist Sanary im Unterschied zu Les Milles ein positiv besetzter Aufnahmeort.

 

Migrationsort

 

Die deutsch-französischen Migrationsorte im Midi Frankreichs entstehen sehr häufig als eine direkte Folge der dramatischen Ereignisse in Nazideutschland. Eine erste Welle von Exilierten kommt 1933, weitere Wellen folgen nach dem Saarreferendum 1935, nach dem « Anschluss » Österreichs 1938, der Eingliederung des Sudetenlandes, dann Prags 1939 in das „Grossdeutsche Reich“. Die Exilanten wählen den Midi, da er Malern und Kunsthistorikern und der europäischen Bohème bereits vor 1933 bekannt ist. Das Leben ist hier weniger teuer als in Paris.

Während sich eine beträchtliche Anzahl von Exilierten in Sanary und anderen Orten an der Côte d’Azur niederlässt, setzen sich andere in der Cézanne-Landschaft um Aix fest. Diese Wahl, die manchmal vor 1933 erfolgt und andere Migranten im Gefolge hat, ist nicht zufällig. Der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe und der Lithograph Erich Klossowoski siedeln sich vor 1933 in Sanary an. Für sie stellen die Kunstwerke, die sich auf den Midi beziehen, bereits einen Gedächtnisort dar. Für den Maler Leo Marschütz und den Kunsthistoriker John Gustav Rewald, die das Château Noir bei Aix bewohnen, stehen die Bilder von Cézanne für eine Örtlichkeit, bevor diese zum Migrationsort wurde. Sie motivieren die Wahl ihres Orts, der erst nachträglich, ab 1933, ein Exilort wird.

Im Gegensatz zu den weit verbreiteten verklärenden Bildern vom Exil im Midi ist die deutsche und österreichische Kolonie sehr schnell zerstritten. Sie versucht auβerhalb von Deutschland die in der Weimarer Republik nie zustande gekommene Volksfront zu bilden, zusammengesetzt aus den Kommunisten, Sozialdemokraten und Linksliberalen. Aber die Einheit der Arbeiterbewegung mit unterstützenden Intellektuellen zerfällt schnell. Die Schauprozesse in Moskau 1936, das Verhalten der Stalinisten im Spanischen Bürgerkrieg 1937, der Hitler-Stalin-Pakt 1939 führen zu Spaltungen. Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger halten innerhalb des Schutzverbandes der Deutschen Schriftsteller an ihrer Solidarität mit der Sowjetunion fest. Feuchtwanger schreibt sein Moskau 1937, wo er ein Loblied Stalins singt. Dieses Buch ist eine Erwiderung auf Retour de l’URSS von André Gide. Die ideologischen und persönlichen Konflikte durchziehen das Milieu der Exilierten in Sanary und auch die Zeit der Internierung in Les Milles. Zu diesen Brüchen kommt das wachsende Ressentiment der Bevölkerung besonders nach dem Scheitern der Volksfront unter Léon Blum. Seit 1938 wird das Klima in Frankreich, in Sanary und anderswo, den Fremden gegenüber immer feindseliger.

In Hinblick auf die Internierungslager ist es wichtig, an den verstörenden historischen Kontext zu erinnern. Wie die Regierung Groβbritanniens interniert auch die französische Regierung die « Angehörigen eines feindlichen Staats », das sind die Personen deutscher Nationalität, die aus dem Reich kommen (die Österreicher gehören seit 1938 dazu). Die zwei Internierungen, diejenige, die im September 1939 beginnt, und diejenige, die im Mai 1940 nach dem Überfall der Wehrmacht auf Frankreich einsetzt, sind von den Regierungen Daladier und Reynaud, also von der Dritten Republik angeordnet worden. Die zweite Internierung erfolgt durch ein Dekret von Georges Mandel; der ehemalige Mitarbeiter von Clémenceau ist in den dreiβiger Jahren Minister der Kolonien, im Mai 1940 Innenminister. Er wird 1944 von der Miliz von Vichy ermordet. Er konnte nicht ahnen, dass sein Dekret die Internierten dem Vichy-Regime und damit Nazideutschland ausliefert. Die Kommentatoren führen häufig die Angst vor Spionen und den Fremdenhass an, um die Internierung der antinazistischen Deutschen zu erklären. Der historische Kontext enthüllt andere Motive. Frankreich ist ab Ende der dreiβiger Jahre sehr antikommunistisch und es hat Angst. Und die Sympathien einer beträchtlichen Anzahl von Exilierten für Moskau sind bekannt. Die Angst vor Kommunisten und Nazis mischt sich mit Deutschenhass. Ideologische Feindschaften zerreiβen auch die zusammengewürfelte Gruppe der Internierten, die bestimmt keine verschworene Gemeinschaft bilden. Die Nazigegner müssen sich nicht nur von wenigen Nazis oder den Deutschen aus der Fremdenlegion distanzieren. Die einen akzeptieren die Person und die Rolle des Sprechers Feuchtwanger, die anderen, zum Beispiel Schoenberner, können ihn nicht ausstehen.

Erst ab Juni 1940, als das Vichy-Regime die Verwaltung der Lager in der sogenannten « Freien Zone » übernimmt, werden die Internierten vor allem im Hinblick auf jüdische Herkunft kategorisiert. Jetzt beginnt die zweite Phase des Lagers, die Zeit des Transits, während der die Internierten die Möglichkeit haben, sich in Marseille die für die Flucht in die USA oder nach Mexiko nötigen Dokumente zu besorgen. In dieser Phase wird eine groβe Zahl von Intellektuellen, darunter Feuchtwanger, Max Ernst, Golo Mann, von den Amerikanern Varian Fry und dem Vizekonsul Hiram Bingham gerettet. Die Fluchtwege – Schiffspassagen von Marseille, dann die Pfade in den Pyrenäen – markieren den Ursprung weiterer Gedächtnisorte, so Port Bou, wo die Gedenkstätte Passages von Dani Karavan an den Selbstmord von Walter Benjamin erinnert.

Die letzte Phase des Lagers Les Milles beginnt mit der Deportation nach Auschwitz via Drancy im August / September 1942. Zahlreiche Juden aus Baden und der Pfalz, die ­ vor der Wannseekonferenz - in den Süden Frankreichs deportiert werden, werden Opfer der Shoah. Als die Wehrmacht den Süden im November 1942 besetzt, ist das Lager Les Milles leer.

Viele Exilierte durchlaufen mehrere Standorte, die so eine Kette bilden. Der Maler Leo Marschütz (Marchutz) bewohnt zunächst das Château Noir bei Aix-en-Provence, er wird dann in Les Milles interniert, nach seiner Freilassung versteckt er sich in der Umgebung des Château Noir. Auch der Maler Wols kommt aus der Internierung in Les Milles frei. Er überlebt in Dieulefit, diesem Dorf der wundersamen Rettung. Während das Dorf Chambon sur Lignon dafür berühmt ist, viele verfolgte Kinder gerettet zu haben, ist der Beistand, den die Bewohner von Dieulefit geleistet haben, lange im Dunkeln geblieben. Marguerite Soubeyran, Simone Monnier und Catherine Krafft, die unkonventionellen Leiterinnen der Schule von Beauvallon, Jeanne Barnier, die Sekretärin des Bürgermeisters, die die Papiere fälscht, und viele andere retten bedrohte Kinder und Erwachsene. Exilierte wie die Maler Willi Eisenschitz und Wols finden hier Schutz und treffen auf französische Intellektuelle wie Henri-Pierre Roché und Emmanuel Mounier.

Im Gegensatz zu Sanary und zu Les Milles bildet sich in Dieulefit ein Übergang vom Exilort zum Wohnort im Nachkrieg heraus. Hier lassen sich gerettete Exilierte häufig dauerhaft nieder und werden Franzosen. Der Ort wird so auch ein Integrationsort, an dem Akkulturation stattfindet. Unter den Migranten befinden sich Mittler – Roché, aber auch Frauen, die Übersetzerinnen werden wie Springer und Gottesmann.

Dieselbe Region nimmt nach dem Krieg eine Gruppe von deutschen Flüchtlingen auf, die aus den Ostgebieten vertrieben wurden. Seit 1948/49 schlägt die französische Regierung mit Schuman ihnen vor, verlassene Bauernhöfe im Süden Frankreichs zu rekultivieren. Nun hat die Drôme nur wenige Jahre zuvor die Rettung der Verfolgten und die Verbrechen der deutschen Besatzer erlebt. Die Erinnerung daran verstärkt das Zugehörigkeitsgefühl, so dass eine Schwelle für die Neuankömmlinge entsteht. Indes nehmen die Einwohner von Dieulefit auch sie auf und integrieren sie. Andere Flüchtlinge deutscher Sprache und Kultur, etwa die Donauschwaben aus dem Banat, haben La Roque sur Pernes, ein verlassenes Dorf im Vaucluse, wiederbesiedelt. Sie werden Franzosen.

 

Erinnerungs- und Gedächtnisort

 

Die Migrationsorte im Midi haben « Stars » der deutschen Kultur beherbergt, die hier kanonische Texte des Exils geschrieben haben. Heinrich Mann hat seinen Henri IV in Nizza geschrieben. Thomas Mann hat Teile von Joseph und seine Brüder im Sommer 1933 in Sanary verfasst. Das Exil zieht literarische Fiktion nach sich, die die Fehlschläge der Zeit und die Möglichkeiten des Widerstands analysiert. Thomas Mann formuliert eine keynesianische Alternative. Im kalifornischen Exil versucht er, den Nazismus aufzuschlüsseln (Doktor Faustus). Heinrich Mann entwirft in Henri IV. den sozialen und internationalen Frieden. Manchmal wird der Ort Subjekt des Textes, so Sanary in Die Witwe Bosca von Schickele oder Marseille in Transit von Seghers. Sanary und Les Milles sind literarische Orte schon während des Kriegs geworden. Feuchtwanger stellt sie in Unholdes Frankreich vor, so der erste Titel von Der Teufel in Frankreich, 1942 in den USA, dann in Ostberlin veröffentlicht. In der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR erscheinen Exiltexte unter der Bedingung, dass sie nicht die offizielle kommunistische Doktrin konterkarieren. Man muss bis in die sechziger Jahre warten, bis man bestimmte Exiltexte in der Bundesrepublik lesen kann. Umgekehrt war es in der DDR unmöglich, etwa ein Bild von Wols aus dem Exil zu sehen. In Westdeutschland konnte ein Leser sich durch Ludwig Marcuses Mein zwanzigstes Jahrhundert über Sanary und über die autobiographische Berichte von Franz Schoenberner (Innenansichten eines Aussenseiters) und Alfred Kantorowicz über Les Milles informieren.

Diese Publikationen sowie die folgende Forschung über das Exil spiegeln Konflikte unter den Exilierten, aber auch ideologische und politische Spaltungen Deutschlands. In einem Prozess einer Restitution vervollständigen sie allmählich das kollektive Gedächtnis. Nach 1945 musste man den Abgrund zwischen der exilierten Kultur und derjenigen der dagebliebenen Deutschen überwinden. Dann musste man die kollektiven Gedächtnisse der Deutschen aus Ost und West zusammenschlieβen. Die Werke von Thomas und Heinrich Mann, Feuchtwanger, Max Ernst und Wols haben eine verschobene und gespaltene Rezeption durchlaufen. Fiktionale und autobiographische Werke, wie Anna Seghers‘ Marseille-Darstellung in Transit, Lisa Fittkos Mein Weg über die Pyrenäen sowie bestimmte Gemälde vermittelten den Deutschen und Österreichern einen bildhaften Eindruck von den Exilorten in Frankreich. Unabhängig von ihrer künstlerischen Qualität wurden sie historische Dokumente, die die Öffentlichkeit des Nachkriegs in Ost und West informierten. Die Rezeption und die Forschung haben schlieβlich diesen wichtigen Teil der deutschen Kultur repatriiert. Letztere hat heute durch diese Reintegration einen extraterritorialen Teil.

Die Migrationsorte führen so eine doppelte Existenz. Sie sind in literarischen und bildlichen Dokumenten präsent; sie bilden eine Gedächtnislandschaft, die sich aus französischen und deutschen Elementen zusammensetzt. Die Texte und Bilder stellen nicht einfach französische Orte vor; diese Orte werden Teil der deutschen Kultur; diese Orte bekommen einen deutschen Bezug. Die Migrationsorte werden in das kollektive deutsche Gedächtnis aufgenommen; die Gedächtnisorte, die in den Dokumenten präsent sind, implantieren gegebenenfalls die gelebte Welt der Migranten in das kollektive Gedächtnis der französischen Bewohner des Ortes.

In der Regel vollziehen sich Erinnerung und Gedächtnis in der deutschen Sprache. Man muss einige Jahrzehnte warten, bevor Dokumente erscheinen, die die Orte der frankophonen Öffentlichkeit öffnen. Das Zeugnis des französischen Pastors Henri Manen stellt lange das einzige französische Dokument über die dramatischen Ereignisse in Les Milles 1942 dar. Die Übersetzungen kommen spät. Der Teufel in Frankreich / Le diable en France etwa erscheint in der Übersetzung von Jean-Claude Capele erst 1996 bei Belfond (2. Auflage 2010).

Was die Sprachhürde angeht, so trifft der umgekehrte Fall ebenfalls zu. Sicher, Orte wie Sanary und Les Milles sind präsent, da sie in der Sprache der Exilierten archiviert sind. Andere bleiben dem deutschsprachigen Publikum verborgen, da die Dokumente, die die unerlässlichen Informationen enthalten, auf Französisch verfasst sind. So sind die Dokumente, die von der Rettung der deutschen Exilierten in Dieulefit berichten, fast alle auf Französisch geschrieben. Dies liegt teilweise daran, dass die geretteten Exilierten zu einem beträchtlichen Teil Kinder sind. Die erwachsenen Exilierten sind oft Mittler, die sich auf Französisch ausdrücken können oder wie die Maler Wols und Eisenschitz nicht-verbale Dokumente hinterlassen haben. Infolgedessen ist Dieulefit weitgehend als deutscher Gedächtnisort nicht existent gewesen. Die zugleich sprachliche und kulturelle Spaltung bleibt einer der Gründe für die beträchtliche Zeit, die zwischen den Ereignissen und dem Gedenken am Ort selbst verflossen ist.

Orte müssen Hürden überschreiten, damit sich ein die Exilierten aufnehmendes kollektives Gedächtnis bilden kann. Die Aufnahme eines Ortes in das kollektive Gedächtnis als Exilort hängt immer noch von der Geschichtsschreibung der Résistance ab. Als Mythos, der die nationale Einheit konstruiert, hat sie lange ein Hindernis für ein gemischtes und verflochtenes Gedächtnis dargestellt. Wenn sie auch nicht verhindert hat, dass Dieulefit als „Hauptstadt des freien Frankreich“ (Vidal-Naquet) präsentiert wurde, so hat sie doch am Ort die Verwirklichung eines deutsch-französischen Gedenkorts verzögert. Die Darstellung der Résistance tendiert häufig auch dazu, die für Dieulefit so wichtige Rolle der Frauen auszublenden, die anders als die Männer nicht mit dem Gewehr kämpften. Sie verschweigt meistens auch den Hitler-Stalin-Pakt, der die Beteiligung der Kommunisten bis zum Sommer 1941 schwierig machte. Sie unterschlägt die Unterstützung dieses Pakts durch das Paar Aragon/Triolet wie auch deren erbärmliches Verhalten gegenüber dem Résistance-Paar Nuding/Schwarz, das sie bei Dieulefit beherbergt. Roché ist eine besonders widersprüchliche Persönlichkeit. Er gibt den Schülern Unterricht, wird Freund von Wols. Er schreibt einen groβen Teil von Jules et Jim in Dieulefit und erweist seinem Freund Franz Hessel (Jules) die letzte Ehre, der in Les Milles interniert ist und im Januar 1941 in Sanary stirbt. Aber Roché verfasst auch in Dieulefit seine Hymne auf Pétain.

Die Dokumente – die literarischen Texte, die Fotos, die Bilder – erfüllen mehrere Funktionen. Sie dienen dazu, einen vormals unbekannten Migrationsort zu entdecken. Sie kennzeichnen diesen Ort. Sie liefern die Informationen, die die Auszeichnung des Orts ermöglichen. Sie formulieren das Bedürfnis nach Anerkennung der Migranten jenseits ihres Todes. Die Dokumente verzeichnen auch den Stand der Akkulturation der Migranten. Als Archiv übermitteln sie die Botschaften den nachfolgenden Generationen. Sie tragen die Informationen in eine französische Umgebung zurück und rekontextualisieren sie. Sie erleichtern oder erschweren den Übergang zum Gedenken.

 

Gedenkort

 

Ein Migrationsort hat zunächst die Tendenz, aus dem kollektiven Bewusstsein zu verschwinden. Die Migranten bleiben nicht dort; einmal gegangen sind sie schnell vergessen. In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren fand ein Reisender auf den Spuren der Exilierten in der Provence, in Sanary oder Les Milles, fast nichts. In Les Milles bestritt man lange die Existenz eines Lagers. So hatte die unterrichtete deutsche Öffentlichkeit zwar durch Dokumente Kenntnis von diesen deutsch-französischen Orten, ohne aber deren deutsche Spuren an Ort und Stelle ermitteln zu können. Sie konnte Der Teufel in Frankreich lesen oder das Les Milles betitelte Bild von Wols betrachten, das sich heute in der Sammlung Gerstenberg in Berlin befindet. Die lokale Bevölkerung, die nach dem Krieg geboren wurde, wusste dagegen nichts von den deutschen Exilierten, es sei denn ein älteres Familienmitglied erzählte ihnen davon. Lange konnte man eine eigenartige Konstellation beobachten: in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zirkulierten Informationen über einen Ort, die am Ort selbst unbekannt waren oder verschwiegen wurden.

Eine nur deutsche Gruppe von Forschern hätte die Blockade an einem Ort wie Les Milles nicht auflösen können. Jacques Grandjonc, Germanist an der Universität in Aix, Gründer der Forschungsgruppe über das deutsche Exil in Frankreich, hörte von Les Milles, als er einen kommunistischen Exilierten 1973 in Ostberlin interviewte. Es brauchte Franzosen am Ort, etwa Jean-Pierre Guindon in Sanary oder André Fontaine in Aix. André Fontaine begann mit der Feldarbeit; Doris Obschernitzki setzte sie fort. Nicht nur die Last der Vergangenheit ist für die lokale Verdrängung verantwortlich. Denn in Sanary, einem Ort, wo es sich besser lebte, musste man ebenfalls dreiβig Jahre warten, bevor die Auszeichnung des Orts beginnen konnte. Die Verzögerung spiegelt eine für das nationale Gedächtnis charakteristische Schwierigkeit wider, den Migranten einen Platz zu geben.

Wenn ein Migrationsort sich in einen Gedenkort verwandelt, gewinnt er eine neue Qualität als geographisches Besucherziel. Er liegt oft in einem reizvollen Umfeld, das viele Besucher anspricht. Er wird Gegenstand eines kulturellen Tourismus nach dem Muster der Pilgerorte. Der Ort muss dann Wegstrecken anbieten, eine Karte, die Orientierung gibt. Die verschiedenen Schilder, Ausstellungen, Konferenzen, Filme sind ein Teil dieser Mittel, die Orientierung vor Ort anzubieten. Es ist nicht anstößig, von den wirtschaftlichen Vorteilen des Gedenkorts zu profitieren. Er zieht Touristen an, die Geld im Ort lassen. Die verschiedenen Interessen schlieβen sich nicht zwangsläufig aus.

Wenn die lokale Bevölkerung an dem Unternehmen teilnimmt, signalisiert sie ihre Bereitschaft, diesen Teil ihrer Geschichte in die regionale und nationale Historiographie zu integrieren. Solange die Geschichte positiv konnotiert bleibt, ist die Einfügung in einen aufwertenden regionalen und nationalen Diskurs leicht. Sanary zum Beispiel kann als ein Symbol Frankreichs, als Land der Menschenrechte, das den Verfolgten Asyl bietet, hingestellt werden. Ein solcher Diskurs muss indessen störende Aspekte ausblenden. Die Teilnahme an Gedächtnisarbeit kann auch einem echten Bedürfnis entspringen, die Bedeutung und das Leiden der Exilierten anzuerkennen und sie der Geschichte des Orts so einzufügen, dass sie widersprüchlicher und facettenreicher wird.

Heute hat sich die Situation geändert. Das Touristenbüro in Sanary verkauft für 3 Euro eine dreisprachige (Französisch, Englisch, Deutsch) Broschüre Sur les pas Allemands et Autrichiens en exil à Sanary, die den Besuchern die Möglichkeit gibt, mit Hilfe von Karten und Informationen die Exilorte aufzusuchen, die Häuser, das Hôtel de la Tour, die Cafés. Die angebrachten Schilder geben weitere Informationen. Die Broschüre zögert nicht, unangenehme Informationen zu geben. So beinhaltet sie ein Schreiben des Bürgermeisters der Zeit, der sich beim Präfekten über die unerwünschten Ausländer beschwert.

Die Ziegelei von Les Milles ist heute ein groβes historisches Denkmal. Nach der Eröffnung der Gedenkstätte in den neunziger Jahren, die vor allem die Zeichnungen der Internierten im Speisesaal der Wärter zeigten, präsentiert sich der seit 2012 erweiterte Gedächtnisort mit den neuesten technischen Medien der Gedächtniskultur. Die Rolle des Vichy-Regimes ist ohne Beschönigung dargestellt; die lokalen Verantwortlichen für die Deportation werden genannt.

Die Verantwortlichen vermeiden indes die Umwandlung in einen deutsch-französischen Ort, der ihn einer bestimmten Verfremdung aussetzen würde. Ein deutsch-französischer Gedenkort macht die Mitwirkung von Mediatoren nötig, die die verschiedenen Kontexte, Kulturen, Sprachen und Disziplinen miteinander verbinden können. Dies ist in sehr unterschiedlicher Weise in Sanary und in Les Milles geschehen.

Die Historiker, Literatur- und Kulturwissenschaftler sowie Kunsthistoriker verknüpfen ihre Disziplinen, um den vielschichtigen transkulturellen Charakter des Ortes herauszuarbeiten. Bezeichnenderweise versammeln die Forschungsprojekte, die sich inzwischen über mehrere Jahrzehnte erstrecken, Migranten und deren Nachkommen, Franzosen, Deutsche und Österreicher. Pierre-Paul Sagave, in den fünfziger Jahren Germanist an der Universität in Aix, ist selbst ein exilierter Berliner Hugenotte. Er unterhält in den dreiβiger Jahren Kontakte zu Thomas Mann in Sanary und anderen Exilierten. Barthélemy Rotger, ein Bewohner von Sanary, der als Kind die Exilierten kannte, hat mit der Sammlung von Dokumenten begonnen. Dann hat Jean-Pierre-Guindon, Mitglied der Forschungsgruppe von Jacques Grandjonc, viele lokale Zeugnisse gerettet. Hervé Monjoin, aber auch die deutschen Forscher Manfred Flügge ,Heinke Wunderlich und Magali Nieradka haben diese Arbeit fortgesetzt. Ulrike Voswinckel und Frank Berninger haben Dokumente hinzugefügt, die aus deutschen Archiven stammen .

Les Milles ist ein eigener Fall. Da die Ziegelei ihre Tätigkeit nach 1945 wieder aufgenommen hat, hat dieser Ort materiell überlebt. Das Verdienst, Les Milles wiederentdeckt und wissenschaftlich aufbereitet zu haben, kommt der Universität in Aix zu, besonders André Fontaine, Jacques Grandjonc und Doris Obschernitzki . Obschernitzki hat die lokalen Archive sorgfältig ausgewertet. Sie hat eine wahre Summe an Daten geliefert, die auch die lokalen Verantwortlichen der Deportation ermittelt. Die Sammlung der Zeugnisse und der Spuren ist in die Region zurückgekehrt. Eine Austellung hat die Maler von Les Milles gezeigt . Der Historiker Jean-Marie Guillon hat das Kolloquium über Varian Fry veranstaltet, das die Schlüsselrolle dieses Amerikaners herausstellt, der so viele Leben gerettet hat . Robert Mencherini zeigt die Verschärfung der Verfolgung . Die Briefwechsel und Zeichnungen der Internierten wurden erst jüngst gefunden. Sie werden in der Dokumentation von Guy Marchot und in der Galerie Alain Paire in Aix gezeigt. Allerdings können die Dokumente auch fiktionale Elemente enthalten. Der Film von Sébastien Grall über Le Train de la liberté, der die Veränderungen der Einstellung des Lagerkommandanten Goruchon zeigt, bietet ein sehr romanhaftes Ende: Nach der Odyssée des Zugs, der die Internierten in die Freiheit bringen soll, retten sich die Exilierten in die Natur. In Wahrheit setzte sich die Internierung fort.

Dass man den Raum mit den Fresken immer noch besichtigen kann, ist hingegen nicht nur den Forschern, sondern auch dem Eingreifen des CRIF und der Personen, die sich im Verein, bzw. der Stiftung für das Gedächtnis des Lagers Les Milles um Alain Chouraqui organisiert haben, zu verdanken. Sie sind es auch, die die Umwandlung der Ziegelei in eine Gedenkstätte betrieben haben. Sie haben erklärende Stelltafeln entworfen und einen Waggon aufgestellt, der über das System der Vernichtungslager informiert . Sie haben schlieβlich den 2012 eröffneten neuen Gedenkort geschaffen.

Die Forscher der Universität und der Verein bzw. die Stiftung scheinen sich zu ergänzen, aber sie rivalisieren auch miteinander mit verschiedenen Konzepten. Erstere wollen vor allem die Leidenswege und das Schaffen der deutschen und österreichischen Intellektuellen und Künstler herausstellen und einen geteilten deutsch-französischen Ort entwerfen . Letztere wollen einen nationalen und europäischen Ort präsentieren, der in die Shoah mündet. Der letzte Teil des Rundgangs durch Les Milles, der die fortdauernde Gefahr der Barbarei in der heutigen Zeit aufzeigt, akzentuiert diesen Aspekt. Mit dem didaktischen Teil haben die Verantwortlichen der Gedenkstätte das Problem vermeiden wollen, dass sich der Besucher zu schnell mit den Opfern identifiziert und sich den « Guten » zurechnet. Diese Falle wird in den Holocaust-Gedenkstätten der USA nicht immer vermieden. Der didaktische Teil zeigt auch Menschen, die den Weg in die Résistance gehen. Allerdings tendiert diese Umwandlung in einen Gedenkort auch dazu, den deutsch-französischen Gedächtnisort zu überlagern und auf die Shoah zu fokussieren.

Man mag hier eine Komplementarität von akademischem Milieu und Zivilgesellschaft sehen. Aber es handelt sich hier auch um eine Enteignung der ersteren durch die letzteren, die Konsequenzen hat. Les Milles ist ein deutsch-französischer Gedächtnisort nur noch durch Dokumente und Forschung.

Die Gründe, die für einen deutsch-französischen Gedächtnisort sprechen, sind auf verschiedenen Ebenen situiert. Zunächst der Ort selbst zum Zeitpunkt der Internierung. Über 90% der Internierten sprach Deutsch. Dies geht in den Kennzeichnungen « europäisch » und «eine groβe Anzahl von Nationalitäten » unter. Deutsch war die Sprache der Internierten, die Spuren der Inschriften auf Deutsch bezeugen dies. Dann die Ebene des Erinnerung- und Gedächtnisortes. Les Milles wurde zuerst von Deutschsprachigen, die sich erinnern, in deutschsprachigen Publikationen in ein Archiv gegeben und so zunächst dem deutschsprachigen Publikum bekannt. Für die Rückbindung an den Ort ist die gemischte Forschungsgruppe unerlässlich, die Zweisprachigkeit praktiziert und verschiedene Disziplinen wie Geschichte, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft vereint. Für die Forscher ist es problematisch, die internierten Migranten auf eine einzige Zugehörigkeit festzulegen. Die Deutschsprachigen bilden nach den Franzosen die wichtigste Besuchergruppe. Auf der Ebene des Gedenkorts würde so eine französisch-deutschsprachige Ausschilderung dem entsprechen. Die Schilder der Ausstellung sind indes auf Französisch und Englisch.

Die Internierung, die die Gedenkstätte global mit der Angst vor Spionen erklärt, wird wenig nachvollziehbar. Der Hitler-Stalin-Pakt, der bis Sommer 1941, also lange nach der zweiten Internierung im Mai 1940 hält, bleibt ein Tabu. Damit bleibt ein Hauptgrund für die Internierung und die ideologischen Spannungen zwischen den Internierten im Dunkeln. Auch das Dilemma, dass die Kommunisten vor Sommer 1941 nicht ohne weiteres an der Résistance teilnehmen konnten, bleibt unerwähnt. Ein ganzer Film ist der Résistance gewidmet, aber die Gedenkstätte lässt einen gewissen gaullo-kommunistischen Mythos intakt. Sie verkleinert die Schlüsselrolle der Amerikaner. Unter den Porträts der Gerechten unter den Völkern im Katalog kommt der Name Varian Fry nicht vor. Dass es sich bei der grossen Mehrheit der im August/September Deportierten um Deutsche jüdischer Herkunft aus Baden und der Pfalz handelt, wird nicht immer deutlich.

Die Cafeteria beherbergt eine Bibliothek. Der Besucher findet dort auf Französisch Feuchtwangers Le diable en France, die DVD Le train de la liberté von Sébastien Grall und die Lettres des Internés von Guy Marchot . Marchots Publikation integriert einen Groβteil der Recherchen der Universität. Die Studie von Doris Obschernitzki ist bisher nicht ins Französische übersetzt.

In Gurs, wo die materiellen Spuren verschwunden sind, hat sich 1980 eine Initiative gebildet, um das Lager wenigstens als Ort des Gedächtnis und des Gedenkens zu erhalten. Dafür konnte man sich auf Archive stützen . Die Gedenkstätte nimmt mit mehreren Denkmälern eine sehr behutsame Annäherung vor. In einiger Entfernung von der Stelle, an der früher die Baracken standen, werden mit sparsamen Mitteln wie Seile und Pfosten die Umrisse von Baracken angedeutet. Die Sprache der „Allée der Internierten“ zeichnet verbal die widersprüchlichen und stigmatisierenden Zuschreibungen nach: CAMP DE GURS MAI 1940 IIIe République Française/9.771 FEMMES „INDESIRABLES“ – RAFLES AU VEL ‚D’HIV‘ – REFUGIEES – ANTINAZIES D’ALLEMAGNE ET D’AUTRICHE – RESISTANTES ALLEMANDES. Die Allée der Internierten wurde von Dani Karavan gestaltet. Er hat auch die Strasse der Menschenrechte auf dem Reichstagsgelände in Nürnberg und das Mahnmal der ermordeten Sinti und Roma in Berlin verwirklicht. Diese Werke setzen sich über ausschliessende Gruppenidentitäten hinweg. Die Zuordnung als deutsch-französische Gedächtnisstelle ist in Gurs weniger evident als in Sanary und Les Milles. Vor allem am Anfang bildeten die Spanienkämpfer die wichtigste Gruppe der Internierten. Der Gedenkort verschafft der symbolischen Ebene Übergewicht über die materialen Reste. Hier ist eher Reduktion der Mittel angesagt, die Abstraktion tritt an die Stelle von Attributen wie deutsch-französisch.

Die Umwandlung eines Orts in einen geteilten Gedenkort ist unterschiedlich weit voran geschritten. In Sanary, einem deutsch-französischen Gedenkort seit zwei Jahrzehnten, werden inzwischen Korrekturen an den ersten Auszeichnungen vorgenommen. 2012 wurde die Gedenktafel mit den Namen der Exilierten durch eine neue ersetzt, die Irrtümer beseitigt und neue Namen hinzufügt.

Der Pfad über die Pyrenäen ist inzwischen eine Gedenklandschaft geworden. Aus der Route Lister wurde die route F, genannt nach Lisa und Hans Fittko, aus der route F wurde der chemin Walter Benjamin. In Banyuls, wo der Pfad beginnt, ist seit 2001 ein Denkmal zu Ehren von Lisa und Hans Fittko zu besichtigen. Am Ende des Pfades erwartet das Denkmal Passages von Dani Karavan in Port Bou, zwischen 1990 und 1994 entstanden, den interessierten Besucher. An anderen Orten in den Pyrenäen, die für die Flucht eine Rolle gespielt haben, bleibt dieser Teil der Geschichte unsichtbar, so in Bedous, wo sich der Leipziger Romanist Wilhelm Friedmann 1942 umgebracht hat (die Gemeinde erwähnt dies allerdings auf ihrer Homepage).

Andere Orte sind im Wartestand. Dieulefit, in der Drôme gelegen, hat besonders viele Verfolgte gerettet. So mag es überraschen, dass das Dorf abgesehen von einigen Tafeln noch nicht Gedenkort ist. Dokumente in deutscher Sprache sind selten. Ausstellungen in Österreich, Deutschland und in der Drôme haben die Landschaften von Eisenschitz und Wols gezeigt .

Die Akteure, die sich für die Verwirklichung eines Gedenkorts in Dieulefit einsetzen, sind auf Öffnung bedacht: Unter ihnen findet man Nachfahren der Retter und der Geretteten, Universitätsdozenten wie Bernard Delpal von der Universität Lyon und Mittlerpersönlichkeiten. Die deutsche Komponente rührt auch daher, dass Dieulefit ein doppelter Migrationsort ist. Anna Tüne, seit langem Berlinerin, ist federführend damit beschäftigt, in Dieulefit eine gemischte, gekreuzte und verflechtende Wirklichkeit freizulegen. Sie kommt aus einer Familie von deutschen Vertriebenen, die sich in Dieulefit in den fünfziger Jahren vorübergehend niedergelassen hat . Die deutsche Familie bewohnt einen Ort, der im kollektiven Gedächtnis der lokalen Bevölkerung bereits ein Gedächtnisort ist. Mittlerleben tragen dazu bei, dem umgewandelten Ort ein transkulturelles Profil zu geben.

Die Geschichte der Banater Donauschwaben ist sicherlich am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen bekannt. Aber die Geschichte von La Roque sur Pernes als deutsch-französischer Ort ist noch zu schreiben. Er gehört zu den Orten mit einem ungewissen Status. Die Sainte Victoire mit ihrem Cézanne-Kontext ist ein reicher Gedächtnisort. Die Dokumente sind zahlreich, wie zum Beispiel die von Meier-Graefe, Marschutz, John Gustav Rewald, Werner Laves, Konrad Wachsmann, Ernst Erich Noth, später Handke…. Das Château Noir ist sicherlich ein deutsch-französischer Gedächtnisort. Er hat Verzweigungen in die USA durch Rewald und Marschutz und zu Wiener Freunden wie Fritz Novotny, der sich an der Seite von Marschutz für die Rehabilitation von Cézanne in Aix einsetzt. Es ist schwierig einzuschätzen, ob der Cézanne-Ort, der heute die Ecole Marchutz beherbergt, ein geteilter Gedenkort werden wird . Aix hat eine « Place Rewald », aber die deutsche Herkunft des amerikanischen Cézanne-Spezialisten bleibt unbekannt.

Marseille ist ein Ort, der besondere Probleme aufwirft. Die Passage von deutschen Migranten und Exilierten ist hier fast unsichtbar. Der Forscher muss- ausgehend von Dokumenten von Kracauer, Seghers, Benjamin... - rekonstruieren. Dem zwischen 1999 und 2002 amtierenden amerikanischen Konsul ist es zu verdanken, dass der Platz vor dem Konsulat in Place Varian Fry umbenannt wurde. Sabine Günther, Direktorin von « Passage et Co », die eine groβe Zahl von Aktivitäten auf der Suche nach den Spuren des Exils in Marseille durchführt, kann sich auf viele Zeugnisse stützen, aber Spuren am Ort selbst sind sehr selten. Zum Jahr 2013, als Marseille Kulturhauptstadt war, wurde ein Pfad Varian Fry eingerichtet.

So bleibt die Vermutung, dass sich ohne nachhaltige Effekte der Kreuzung und Verflechtung der beteiligten Kulturen Gedächtnisorte nicht in deutsch-französische Gedenkorte verwandeln können. Ein Schild vor der Freiburger Universität, das einem deutschen Verkehrsschild nachgebildet ist, zeigt an: Gurs 1027 km. Ein zweites Exemplar dieses Schildes ist in Mannheim angebracht. Sie stehen an den Orten, an denen Badener und Pfälzer als Juden ausgestossen worden sind. Sie ersetzen in gewisser Weise das Internierungslager, das materiell ganz verschwunden ist. So stöβt man erneut auf den Stellvertreter-Effekt, der so wichtig für Gedächtnisarbeit ist. Es kommt darauf an, die Migranten nicht in eine einzige „Identität“ einzusperren. Ein deutsch-französischer Ort müsste vor allem einen Rahmen für plurale Zugehörigkeiten abgeben. Seine Verwandlung in einen geteilten Ort ist eine Probe auf Transkulturalität.